In Prag leben viele Ukrainer und Russen. Einige Russen unterstützen den Krieg, andere nicht. Und wenn Tschechien auch nicht direkt an die Ukraine grenzt: Der Konflikt ist nicht weit entfernt – bis zur ukrainischen Grenze sind es nur zehn Autostunden.
Währenddessen in der Ukraine ein zerstörerischer Krieg tobt, sind die Emotionen zwischen Ukrainern und Russen auch in Tschechien zu spüren. In Restaurants, Lebensmittelläden und sogar auf den Strassen Prags beispielsweise. Doch es gibt in der tschechischen Hauptstadt auch einen Ort des Friedens – sowohl für Ukrainer als auch für Russen: die Russischsprachige EMK-Gemeinde, die sich den Namen «Agape» gegeben hat. Menschen beider Nationalitäten, dazu auch Weissrussen und Kasachen, versammeln sich jeweils am Sonntagnachmittag um 16.00 Uhr, um Gott anzubeten.
Ray Wilck, ein pensionierter Missionar aus den USA, besuchte kürzlich einen der Gottesdienste dieser Gemeinde. «Mein erster Eindruck war, wie ähnlich die Gottesdienste der EMK in allen Sprachen und Kulturen sind. Ich konnte dem Gottesdienst auf Englisch folgen. Der Sohn des russischen Pastors Lev Shults übersetzte. Die Schriftlesungen und die Predigt waren auf Russisch. Die Gebete waren auf Ukrainisch, und die Loblieder wurden in beiden Sprachen gesungen.» Für Wilck war es aber nicht einfach ein normaler Gottesdienst. Vielmehr erlebte er etwas, das ihn zutiefst berührte.
«In seiner Predigt achtete Pastor Lev darauf, keinen politischen Standpunkt zu bevorzugen - sehr sogar. Seine Botschaft war eine göttliche, keine politische», so Wilck. Und sie war eine Botschaft, die untrennbar mit der aktuellen Situation verbunden war. «Pastor Lev erzählte, wie er in der Nacht nach einem Alptraum aufgewacht war – und festgestellt hatte, dass dieser Alptraum Wirklichkeit ist.» Er habe auf die Hilfsaktivitäten der Gemeinde Bezug genommen und mit grosser Achtung vom Engagement derjenigen Männer gesprochen, die, unterstützt von den tschechischen EMK- Gemeinden, wöchentlich mit einem Lastwagen voller dringend benötigter humanitärer Güter an die ukrainische Grenze fahren. Mit nicht verderblichen Lebensmitteln wie Dosenfleisch zum Beispiel. Mit Hygieneartikeln wie Seife und Toilettenpapier. Oder mit Medikamenten. Die Ladung wird dann jeweils an der Grenze übernommen und an Hilfsbedürftige in der Ukraine verteilt.
Zum Beispiel in Sumy, eine Stadt im Nordosten des Landes. Zahlreiche Menschen sind von dort schon Richtung Westen geflohen. So manche sind aber auch geblieben. Einige Tage nach Wilcks Gottesdienstbesuch in der Russischsprachigen EMK-Gemeinde erreichte Pastor Lev Shults die Nachricht eines Freundes in Sumy. Die Stadt sei in der Nacht bombardiert worden. Eine Bombe sei dabei unmittelbar neben dem Haus eines Diakons detoniert. Die Druckwelle der Explosion habe ein Fenster quer durch das ganze Zimmer geschleudert, knapp über die Köpfe des Diakons und seiner Ehefrau hinweg. Hätten die beiden sich nicht zum Gebet hingekniet gehabt, sondern wären sie stattdessen gestanden, wäre das Fenster nicht an der gegenüberliegenden Wand zerborsten, sondern es hätte das Ehepaar getroffen.
«Die Predigt, die Pastor Lev im Gottesdienst hielt, war nur kurz», so Wilck weiter. «Ihr Schlüsselwort war ‚Frieden‘. Frieden für die Ukrainer, Russen, Tschechen, Amerikaner und alle Kinder Gottes.» Pastor Lev habe über Jesus gesprochen und darüber, dass wir einander so lieben sollen, wie wir uns selbst lieben. «Sein Gebet war einfach und schlicht. Wir müssen unsere Herzen füreinander in Frieden öffnen.» In offenen Gebeten habe die Gemeinde für ein gemeinsames Verständnis unter allen Völkern und Nationen gebetet.
Nach dem Gottesdienst konnte Wilck kurz mit Pastor Lev Shults sprechen. «Ich fragte ihn, wie er seine Botschaft zusammenfassen würde. Seine Antwort war: ‚Frieden verbindet die Menschen. Krieg trennt sie. Wir beten in Jesu Namen.‘»
Ray Wilck wollte einen Gottesdienst an einem Sonntagnachmittag besuchen – und er wurde Zeuge eines Wunders.
Quelle: Ray Wilck, Prag / Pastorin Jana Krizova, Prag / Urs Schweizer, Assistent des Bischofs, Zürich