Die Zahl der Menschen, die in den vergangenen Tagen aus der Ukraine in die westlichen Nachbarländer geflohen sind, beläuft sich bereits auf mehr als 2 Millionen. Und doch: Es sind nicht einfach «Ströme». Es sind unvorstellbar viele einzelne Menschen mit ihrer je eigenen Identität und Geschichte, die sich aufgemacht haben, um an einem sicheren Ort Schutz und Zuflucht zu suchen.
Sie waren unterwegs aus Charkiw Richtung Westen, überquerten die Grenze nach Polen und kamen nach Radom. In dieser Stadt 100 km südlich von Warschau wurde die Reise plötzlich unterbrochen. Die hochschwangere Frau konnte nicht mehr weiter, weil die Geburt ihres Kindes begonnen hatte. Vater und Mutter gaben dem Neugeborenen den Namen «Miroslawa» – die Friedliebende. Ein Ausdruck tiefster Sehnsucht? Ein Wunsch, dass sich das Gute und Hoffnungsvolle als stärker erweisen möge als das Grausame und Zerstörerische dieser Tage?
Zwei Tage später kamen sie nach Warschau, wo sie in der EMK-Gemeinde Zuflucht fanden – wie schon mehr als 100 Personen in den Tagen zuvor. Sie schlafen auf Matratzen, die in den Kirchensaal gelegt werden. Sie erhalten zu essen, Kleider, Hygieneartikel. Sie finden in Pfarrer Andrzej Malicki einen Seelsorger, mit dem sie sich auch ohne Englisch-Kenntnisse verständigen können. Der ihnen zuhört, mit ihnen betet, mit ihnen in der Bibel liest. Der mit ihnen auch die Frage aushält: Und wo ist Gott?
Am Sonntag, wenn Gottesdienst gefeiert wird, werden die Matratzen zur Seite geräumt. Aber vielleicht ist das, was unter der Woche geschieht, mindestens so sehr Gottesdienst.
Die Verantwortlichen in Warschau sind daran, einen neuen Raum für Flüchtlinge herzurichten, um die Kapazitäten zu erweitern. Sehr viele Menschen aus der Ukraine, die in einem ersten Schritt nach Polen fliehen, fahren über Warschau. Entsprechend voll sind die Bahnsteige der polnischen Hauptstadt. Dank der Unterstützung aus den USA, aus Deutschland und aus der Schweiz können die Verantwortlichen der EMK Matratzen kaufen, Kissen, Schlafsäcke, Kleider, Schuhe. Und natürlich Lebensmittel. Meistens bleiben die Menschen in Warschau nur zwei Nächte, kommen zur Ruhe, stärken sich. Dann reisen sie weiter, und neue Menschen finden Zuflucht, Stärkung, Kleidung.
Zahlreiche polnische EMK-Gemeinden sind auf ähnliche Weise aktiv und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Not der Menschen aus der Ukraine zu lindern. In Stare Juchy, wo die Kirche ein Jugendzentrum mit einer entsprechenden Beherbergungs-Infrastruktur besitzt, werden gerade Vorbereitungen getroffen, um ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen.
Und wenn sie auch nicht alle ein neugeborenes Mädchen mit Namen Miroslawa unterbringen – die Hoffnung auf Frieden eint sie. Und der Wille, diesen in den herausfordernden Erfahrungen dieser Tage zu leben.
Quelle: Superintendent Andrzej Malicki, Warschau / Urs Schweizer, Assistent des Bischofs